Rede der Bischöfin Kirsten Fehrs zur Einweihung der Stolpersteine in Ochsenzoll (Hamburg)

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Vielen vielen Dank liebe Frau Fehrs für die schöne Rede. Ich muss sie einfach veröffentlichen. Und sie beinhaltet so viel Wahrheit.

 

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Einweihung des neuen Gedenkortes in Ochsenzoll

am 2. Mai 2018

Gedenkrede von Bischöfin Kirsten Fehrs

 

Erinnern für die Zukunft. Erinnern, um das Unfassbare immer wieder aus dem Schatten des Schweigens ins Licht zu holen und in die Auseinandersetzung. Er-innern, so dass es uns im Innern erreicht: Tausende Patienten, Kinder auch!, wurden von hier aus in Tötungs- und Verwahranstalten deportiert; ihr Leben als lebensunwert befunden. Eiskalt hat man sie hungern lassen, mit so genannten medizinischen Experimenten gequält bis zum Tod. Im ersten Euthanasie-Transport waren 136 Jüdinnen und Juden, überhaupt in ganz Hamburg die ersten, die deportiert wurden;  noch am selben Tag wurden sie in der Gaskammer von Brandenburg ermordet.

Es ist so viel Frevel geschehen in diesem Land. Jahrtausende vor uns beschreibt so der jüdische Prophet Jesaja, wie Schuld und Versagen die Zukunft auf tönerne Füße stellt, wenn man sich der eigenen Schuldgeschichte nicht stellt.   Darum, so spricht der Heilige Israels: Weil ihr dies Wort verwerft und vertraut weiter auf Frevel und Mutwillen, so soll euch diese Schuld sein wie ein Riss, der aufbricht und klafft an einer hohen Mauer, die plötzlich, unversehens einstürzt, wie wenn ein Topf zerschmettert wird, den man zerstößt ohne Erbarmen, sodass man von seinen Stücken nicht eine Scherbe findet, darin man … Wasser schöpfe aus dem Brunnen.“

Diese alten Prophetenworte gehen uns direkt an: Auch wir Kirchen haben uns in dieser Nazi-Diktatur schuldig gemacht. Geradezu abgründig sind die Berichte von Ärzten und Pastoren, Schwestern und Pflegern. Sie haben es nicht nur zugelassen, sondern aktiv daran mitgewirkt, dass die ihnen anvertrauten Schützlinge in die  Arbeits- und Vernichtungslager des Naziregimes abtransportiert wurden. Emotional ist das doch unbegreiflich:  Wie konnten so viele christlich erzogene, zum Teil tiefgläubige Menschen diese menschenfeindliche Ideologie unterstützen, ja sich zu Eigen machen? Und das mit den krudesten Argumentationen. Auch in Alsterdorf, deren Geist der Gründer Heinrich Sengelmann im 19. Jahrhundert mit seinem berühmten Zitat beschrieben hatte: „Wir haben es nicht mit ‚Fällen‘ zu thun, sondern mit Mitmenschen, in denen auch eine Seele wohnt, wenn auch eine verhüllte.“ Zwei Generationen später gaben seine Nachfolger ihren Schützlingen auf dem Weg in die Vernichtungslager ein Schreiben mit, dessen letzter Satz lautete: „Wir bitten bei einem eventuellen Ableben des Patienten um Zusendung des Gehirns für unsere Sammlung.“

Das Herz stolpert. Und das soll es auch. Ich kann nur erschüttert erkennen und klar aussprechen, dass die Kirche in entscheidender Stunde über alle Maßen versagt hat. Furchtbar, dass sie nicht klarer Christus bekannt und dieser Menschenverachtung widerstanden hat. Auch das eine Schuld, die wie ein Riss immer wieder aufbricht.

 

Dieser Gedenkort hier in Ochsenzoll wird wachhalten, was damals geschah. Denn wir dürfen nicht aufhören, daran zu erinnern, wozu der Mensch fähig ist. Jede Gesellschaft neigt dazu, die Schwachen durch aktives Handeln oder durch gleichgültiges Wegschauen auszugrenzen. Und so erinnern wir auch, um es nicht zu vergessen, dass es diese Traditionslinien in Deutschland nach wie vor gibt, die sich äußern in Judenfeindlichkeit und Rassismus, in der stillschweigenden Hinnahme von Ausgrenzung, in Pöbeleien und Gewalt gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, anderen Glaubens, anderer Herkunft. Wie ein gefährliches Virus, das im Körper schlummert, so sind völkisches Denken, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in unserer Gesellschaft erschreckend präsent. Dieser destruktiven Energie, die hetzt, zerstört, verbrennt, tötet, müssen wir entschieden entgegen treten! Klar sein und wach bleiben! Insofern: Erinnern für die Zukunft!

Dabei erfahren wir in diesem Moment und an diesem Ort hautnah, dass Erinnerung viel mehr ist als eine intellektuelle Auseinandersetzung. Sie ist mehr als das Aufschlüsseln historischer Fakten und Zusammenhänge, mehr auch als das erschrockene Innehalten. Erinnerung ist Seelenarbeit, die eine große Sehnsucht für die Zukunft in sich trägt. Lasst uns beten, handeln und auch streiten – für diese Sehnsucht nach Leben, das geliebt und geschützt gehört und auf dieser Welt Recht hat - immer.

 

 

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.